Die Lehren aus dem Kampf der indischen Bäuer*innen

Von Sushovan Dhar[1], 28. Januar 2021

Der Kampf der Bäuer*innen und ihr teilweiser Vormarsch hat uns den Weg gezeigt. Starke Bewegungen von unten können das Potential haben, es mit dem Moloch Hinduvta[2] aufzunehmen, viel mehr als das Zusammenschustern von Wahlbündnissen. Was wird das Schicksal dieser Bewegung in sechs Monaten sein? Wir wissen es nicht, aber es lohnt sich, an das alte chinesische Sprichwort „eine Reise von tausend Meilen muss mit einem ersten Schritt beginnen“ zu erinnern.

An keinem anderen Tag der Republik wurden wir Zeugen eines solch beispiellosen Ausmaßes an öffentlichen Forderungen an ihre Regierung. Die Straßen von Delhi wurden durch spontane Märsche von Hunderttausenden von Bäuer*innen erfüllt, die ein ernsthaftes Mitspracherecht in der Res Publica oder den öffentlichen Angelegenheiten haben wollten. Unter einem Strauß lahmer Ausreden, die den Marsch der Bäuer*innen stoppen sollten, war eine besonders lächerlich: Dass diese Demonstration eine „Verschwörung“ sei, um Indien vor der Welt zu diffamieren, indem man am Tag der Republik eine Traktordemonstration in der Hauptstadt abhielt. Die kämpfenden Bäuer*innen bewiesen, dass sie das Banner der „größten Demokratie der Welt“ hochhalten, während das gegenwärtige Regime wild entschlossen ist, alles niederzutrampeln und abzuschaffen, was an demokratischen Werten im Lande noch übrig ist.

Zuvor, in einer interessanten Wendestelle der Geschichte, schlug die Regierung am 20. Januar vor, die drei umstrittenen Landwirtschaftsgesetze für eineinhalb Jahre auszusetzen und ein gemeinsames Komitee einzurichten, um die Gesetzgebung bei der zehnten Gesprächsrunde mit den Bäuer*innenverbänden zu diskutieren. Die Samjukta Kisan Morcha[3] lehnte das Angebot jedoch schon am nächsten Tag ab. Sie stellte entschlossen klar, dass die Bewegung so lange fortgesetzt wird, bis die drei Anti-Bauern-Gesetze vollständig aufgehoben sind. Die AIKSCC[4] war auch entschlossen, ihre geplante Traktordemonstration am Tag der Republik durchzuführen.

Vor ein paar Tagen hatte der Oberste Gerichtshof die Absicht geäußert, die Umsetzung der umstrittenen Landwirtschaftsgesetze auszusetzen und gleichzeitig vorgeschlagen, ein unabhängiges Komitee unter dem Vorsitz eines ehemaligen Obersten Richters zu bilden, um die Pattsituation zwischen den Landwirten und der Regierung „gütlich zu lösen“. Natürlich gab es ernsthafte Fragen über die „Unabhängigkeit“ des Komitees, dennoch waren die ersten Anzeichen eines Zurückruderns (der Regierung) offensichtlich.

Regierung zum Rückzug gezwungen

Angesichts der aggressiven und feindseligen Haltung der derzeitigen Regierung – erst recht, nachdem sie 2019 zum zweiten Mal gewählt wurde – mag die Ankündigung des Landwirtschaftsministers der Union, Narendra Singh Tomar, etwas ungewöhnlich, aber nicht völlig überraschend erscheinen. Die Regierung hoffte, dass diese Ankündigung die Gewerkschaften, die entschlossen waren, am Tag der Republik eine Traktorendemonstration durchzuführen, dazu zwingen würde, ihre monatelange Proteste zu überdenken und ihre Blockade der nationalen Hauptstadt kleinlaut aufzugeben. Verschiedene Maßnahmen, einschließlich Drohungen und Einschüchterungen, um die Bauern einzuschüchtern, wurden schon früher ausprobiert, aber es war alles vergeblich. In einem Versuch, die Protestbewegung zu diskreditieren, beschuldigte ein Teil der herrschenden Regierung die Bauern der Unterwanderung durch separatistische Sikh-Elemente. Dieses üble Spiel führte zu einer Gegenbewegung und die Minister der Regierung, die für die Verhandlungen mit den Bauerngewerkschaften zuständig waren, hatten keine andere Wahl, als die Anschuldigungen zurückzuweisen und ihre Hände in Unschuld zu waschen.

Die fortgesetzte Proteste der Gewerkschaften, die unmittelbar bevorstehenden Demonstrationen zum Tag der Republik und die Weigerung des obersten Gerichts, diese zu verbieten, waren nur die unmittelbaren Anlässe für diese Kompromissformel. Ein verzweifelter und letzter Versuch, diese wachsenden Unruhen, die sich möglicherweise auf andere Teile des Landes ausbreiten könnten, energischer einzudämmen. Die Stammorganisation der faschistischen Brigade, d.h. die RSS[5], war ebenfalls beunruhigt über die unbefristete Fortsetzung dieses gut organisierten Protestes. Suresh „Bhaiyaji“ Joshi, die Nummer zwei des Sangh Pariwar[6], drückte in einem Interview mit dem Indian Express seine Bedenken über die Stabilität der Regierung angesichts eines solch entschlossenen Widerstandes aus.

Kann man dies als einen Teilfortschritt bezeichnen? Sicher. Gibt es Gründe zum Feiern? Natürlich, ja. Es ist zwar wichtig, die Sache nicht zu überschätzen oder zu übertreiben, aber es gibt genug Gründe, sich über diese kollektive Aktion zu freuen, die die Regierung in die Schranken gewiesen hat. Sicherlich ist es der Verdienst von Millionen von Bäuer*innen dieses Landes, die unermüdlich mit dem Rücken zur Wand gekämpft haben. Die Bauernschaft kämpft eindeutig um die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal (Leben und Lebensunterhalt) gegen die von dieser Regierung eingeleitete kapitalistische Kontrolle der Landwirtschaft. Weder die tiefe landwirtschaftliche Krise, die das Land seit den letzten drei Jahrzehnten verschlingt und die dazu geführt hat, dass über 300.000 Bäuer*innen aufgrund ihrer hohen Verschuldung Selbstmord begangen haben[7], noch die chronische ländliche Notlage, die Tausende dazu zwingt, ihre Dörfer zu verlassen und auf der Suche nach einer ungewissen Zukunft in die städtischen Zentren abzuwandern, kann so einfach rückgängig gemacht werden. Wir brauchen sicherlich einen größeren politischen Kampf, um diese Krise zu überwinden, aber der aktuelle Kampf ist ein ernsthafter Weg in diese Richtung. Er hat Hoffnungen in den Köpfen von Millionen geweckt, die dieses faschistische Regime bekämpfen und die demokratische Seele der Nation zurückgewinnen wollen.

Die jüngsten Landwirtschaftsgesetze sowie die neuen Arbeitsgesetze sind Versuche, ein noch nie dagewesenes Ausmaß an „Reformen“ durchzuführen, die der Großbourgeoisie freie Hand bei der Führung der Wirtschaft geben. Zweifelsohne befürwortet sie dies sehr stark. Während die Arbeitsgesetzbücher ein Versuch sind, die Beschäftigung zu flexibilisieren, indem sie den Eigentümer*innen das Recht geben, Angestellte „einzustellen und zu feuern“ und die gesetzlichen Mindestgarantien für die Arbeiter*innen abzuschaffen, können die ersteren als eine Antwort auf die Agrarkrise von rechts gesehen werden. Sie werden geschickt von den Medien und einer Gruppe von Ökonom*innen unterstützt, die – so beeindruckt von den neuen Agrargesetzen – versuchen, die öffentliche Meinung über die Gesetze zu beeinflussen. Viele sind so weit gegangen, diese Gesetze als etwas anzukündigen, das den indischen Agrarsektor revolutionieren wird. Glücklicherweise sind die Bauern gegenüber solchen Belehrungen unbeeindruckt.

Die Stärke und das Ansehen dieser Proteste beruhen auf dem Mut und dem taktischen Einfallsreichtum einer Bewegung, die eine echte wirtschaftliche Basis hat. Sie ist eine Bestätigung der Tatsache, dass der neoliberalen Agenda, die von allen politischen Parteien in Indien, einschließlich Teilen der Mainstream-Linken, verinnerlicht wurde, weiterhin von unten widerstanden wird. Die Widerstandsfähigkeit, die die Bäuer*innen, vor allem aus Punjab und Haryana, und ihre Organisationen gezeigt haben, ist beispielgebend und, offen gesagt, viel radikaler als die Politik der bestehenden Linksparteien.

Die Krise der Linken

Die Krise der Linken erklärt teilweise den relativen Mangel an Entschlossenheit seitens der Gewerkschaften und der gesamten Arbeiter*innenbewegung, die aktuellen Proteste voll zu unterstützen. Es gab winzige Versuche von Arbeiter*innen, sich mit den protestierenden Bäuer*innen zusammenzuschließen, und es ist zu befürchten, dass sie eine einzigartige Chance verspielen, ähnliche Offensiven in ihrem eigenen Interesse zu starten, gerade jetzt, solange das Eisen heiß ist.

Leider werden die großen Gewerkschaften des Landes von der einen oder anderen politischen Partei kontrolliert. In Ermangelung einer wirklich unabhängigen Organisierung fungieren diese Gewerkschaften, anstatt als authentischer Ausdruck der Arbeiter*innenklasse zu agieren, als Transmissionsriemen ihrer „Mutterorganisationen“. Vielleicht erklärt diese Parteigewerkschaftlichkeit die schwache Reaktion der Arbeiter*innenklasse auf die aktuelle Bauernbewegung. Kann die Situation gewendet werden? Schwierig, aber nicht unmöglich! Ist es einen Versuch wert? Ja, wir haben keine andere Wahl! Ohne die Selbstorganisation der Klasse hat sie schon viel preisgegeben, wie sowohl im aktuellen Szenario und auch historisch zu sehen ist.

Diese Bewegung ist sehr wichtig für die Linke. Während jeder Versuch, diese als einen Bäuer*innennaufstand zur Eroberung der Staatsmacht zu sehen, töricht wäre, ist es auch keine „Bewegung nur reicher Bäuer*innen“, wie es gewisse Teile der Linken oder genauer gesagt einige Anhänger*innen einer sozialistischen Revolution in Etappen behaupten. Die Bäuer*innen kämpfen um ihr unmittelbares und längerfristiges Überleben. Es wäre sträflich, wenn die Linke entweder in tiefem Sektierertum versinken oder diese Gelegenheit verspielen würde, eine überzeugende Opposition gegen die Hindutva zu bilden, die aus ihren althergebrachten ideologischen Kokons herauskommt. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen und alle Anstrengungen unternehmen, um diese Proteste in breitere Volkskämpfe gegen das faschistische Regime zu verwandeln und ihnen einen antikapitalistischen Charakter zu geben. Die gegenwärtige Dynamik kann vertieft werden, indem die Forderungen verschiedener Teile der arbeitenden Bevölkerung einbezogen werden. Forderungen nach Schaffung von Arbeitsplätzen, Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität unter anderem würden dazu dienen, die Anziehungskraft und Stärke dieser Bewegung unter den Massen in den verschiedenen Regionen zu verstärken. Die Verfolgung dieser Forderungen würde der Bewegung nicht nur helfen, Unterstützung unter den arbeitenden Menschen zu gewinnen, sondern sie würde auch die Vertreter*innen der Teile der reichen Bauernschaft an den Rand drängen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, Solidarität mit den Kämpfen der Arbeiter*innenklasse, die anderswo geführt werden, aufzubauen.

 

Nachsatz

Der gegenwärtige Kampf hilft uns auch, um das Licht der Aufmerksamkeit auf eine andere wichtige Frage zu lenken. Können die faschistischen Kräfte durch die Bildung von Wahlbündnissen besiegt werden oder sind sie am besten durch mächtige Massenmobilisierungen von unten zu bekämpfen? Während wir mögliche Wahlkoalitionen nicht völlig ausschließen, müssen wir auf die Entwicklung der indischen Wahlen und die Entwicklung des rechten Flügels achten. Der Sangh Parivar und die anderen Hindutva-Kräfte haben seit den 1950er Jahren einen konsequenten ultrarechten Kurs beibehalten, der weder durch Wahlniederlagen noch durch ein Bündnis mit „säkularen“ Kräften behindert wurde. Man erinnert sich lebhaft an den Optimismus eines Teils der Liberalen, als die Rechtsextremen 1977 in die Janata-Partei eintraten, um die Regierung zu bilden. Mit Vajpayee als Außenminister im Kabinett von Morarji Desai sahen viele das Hindutva-Projekt eingedämmt, gezähmt und zivilisiert. Die Geschichte hat solchen Optimismus mit Verachtung gestraft. Kein Wahldebakel reicht aus, um diese Agenda zu zerstören, und jeder echte Kampf gegen das Hindutva-Projekt muss dies anerkennen. Ein langfristiges politisches Projekt, damit umzugehen, muss auf Klassenkampf basieren, und unsere Suche nach einem kleineren Übel, d. h. relativ „harmlosen“ bürgerlichen Verbündeten, wird sich als ernsthafte Hürde für lebendige Möglichkeiten für Klassenagitation und Massenbewegungen erweisen.

Der Kampf der Bäuer*innen und ihr teilweiser Fortschritt haben uns den Weg gezeigt. Starke Bewegungen von unten können das Potenzial haben, es mit dem Moloch Hinduvta aufzunehmen, viel mehr als das Zusammenheften von Wahlbündnissen. Was wird das Schicksal dieser Bewegung in sechs Monaten sein? Wir wissen es nicht, aber es lohnt sich, sich an das alte chinesische Sprichwort zu erinnern: „Eine Reise von tausend Meilen muss mit einem einzigen Schritt beginnen.“

 

Der Autor ist ein politischer Aktivist und Kommentator.

 

[1] Sushovan Dhar ist Mitglied von Radical Socialist, Indien und Gewerkschaftsaktivist in NTUI (New Trade Union Initiative), einer 2002 gegründeten parteiunabhängigen Gewerkschaftsinitiative.

[2] Hinduvta ist die dominante Form des rechtsextremistischen Hindu-Nationalismus in Indien. Als politische Ideologie wurde Hindutva von Vinayak Damodar Savarkar im Jahr 1923 formuliert. Die Hindutva-Bewegung wurde als eine Variante des „Rechtsextremismus“[5] und als „fast faschistisch im klassischen Sinne“ beschrieben, da sie an einem Konzept der homogenisierten Mehrheit und der kulturellen Hegemonie festhält. https://en.wikipedia.org/wiki/Hindutva

[3] Samyukta Kisan Morcha ist ein Dachverband von Bäuer*innenngewerkschaften in Indien

[4] Das AIKSCC (All India Kisan Sangarsh Coordination Committee) – (All India Farmers‘ Struggle Coordination Committee) ist ein gesamtindischer Dachverband, der 250 Bauernorganisationen umfasst. Das Komitee wurde mit dem Zusammenschluss von 130 Bauernorganisationen nach dem Tod von sechs Bauern durch Schüsse, die mutmaßlich von der Polizei abgegeben wurden, in Mandsaur, Madhya Pradesh im Juni 2017 gegründet.

[5] RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh „Nationale Freiwilligenorganisation“) ist eine radikalhinduistische bzw. faschistische, hierarchisch strukturierte Kaderorganisation. Er basiert auf den Prinzipien der Hindutva. Der RSS wurde 1925 durch Keshava Baliram Hedgewar gegründet und ist laut BBC „das größte Freiwilligenkorps der Welt“. Die RSS gewann seither Bedeutung und politischen Einfluss, der im Aufstieg der Bharatiya Janata Party (BJP) seinen Höhepunkt fand, die als politischer Flügel der Sangh-Bewegung gilt.

[6] Der Sangh Parivar („Familie der Rashtriya Swayamsevak Sangh“) oder die „RSS-Familie“ bezeichnet als Überbegriff die Sammlung hindu-nationalistischer Organisationen, die aus der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) hervorgegangen sind und ihr angeschlossen bleiben. Dazu gehören die politische Partei Bharatiya Janata Party, die religiöse Organisation Vishva Hindu Parishad, die Studentenvereinigung Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad (ABVP), die religiös-militante Organisation Bajrang Dal, die den Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad (VHP) bildet, und die Arbeitergewerkschaft Bharatiya Kishan Sangh. Oft werden auch verbündete Organisationen wie die Shiv Sena dazugezählt, die die Ideologie der RSS teilen. Der Sangh Parivar repräsentiert die hindu-nationalistische Bewegung Indiens.

[7] Siehe auch den erschütternden Artikel des Autors über die unerträgliche Last der Verschuldung der indischen Bäuer*innen in International Viewpoint: The unbearable burden of being an Indian farmer: shot dead for demanding debt relief https://internationalviewpoint.org/spip.php?article5055

 

 

Der Artikel erschien am 28.1.2021 in ground Xero https://www.groundxero.in/2021/01/28/the-lessons-of-the-indian-farmers-struggle/

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Hanser