Die Bewegung gegen das Regime in Serbien: Ein Jahr Mobilisierung im Rückblick
Freitag, 31. Oktober 2025, von Gaëlle Guehennec
Seit einem Jahr kämpfen junge Menschen in Serbien gegen das autoritäre Regime von Aleksandar Vučić für eine demokratische Gesellschaft. Auf beiden Seiten Serbiens ziehen studentische Demonstrationszüge in Richtung Novi Sad, um an den Einsturz des Bahnhofs zu erinnern, bei dem am 1. November 2024 16 Menschen ums Leben kamen. Dieses tragische Ereignis löste politische Proteste von beispiellosem Ausmaß aus.
Seit einem Jahr gehen serbische Student:innen auf die Straße. Es ist ihnen gelungen, die größte Protestbewegung seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000 zu organisieren. Sie machen das autoritäre und korrupte Regime von Aleksandar Vučić für die Tragödie in Novi Sad verantwortlich. Seit die Serbische Fortschrittspartei (SNS) 2012 an die Macht kam, hat der Präsident die Macht auf sich konzentriert, die Opposition marginalisiert und die unabhängige Presse unterdrückt.
Ab April 2025 verlagerte sich die Mobilisierung auf die internationale Bühne. Einige der Student:innen reisten nach Brüssel und Straßburg, um die europäischen Institutionen auf die autoritären Exzesse ihrer Regierung aufmerksam zu machen. Gleichzeitig prangerte die Bewegung die Rolle der öffentlichen Medien bei der Verbreitung staatlicher Propaganda an. Angesichts des Schweigens Europas und der Ignoranz der Machthaber vollzog die Bewegung eine strategische Wende: von einer zivilgesellschaftlichen zu einer politischen Bewegung.
Im Juni markierte die Gründung der Sozialen Front einen Wendepunkt: [1] Dieser Zusammenschluss von Kollektiven der Arbeit und Berufsverbänden vereinte erstmals die fünf wichtigsten Gewerkschaften Serbiens. In einem Land, in dem die Politik weiterhin auf Privatisierung und den Abbau von Arbeitsrechten ausgerichtet war, ebnete diese Allianz den Weg für eine mögliche Neuorganisation der Arbeiter:innenbewegung.
Die Reaktion des Regimes war jedoch brutal. Die Repressionen wurden verschärft, die Polizei setzte illegale Mittel wie Schallkanonen ein, und es kam zu immer mehr Zusammenstößen. In der Nacht vom 13. Oktober kam es in mehreren serbischen Städten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und Anhängern der SNS, die von der Polizei und paramilitärischen Milizen unterstützt wurden. [2]
Diese Eskalation schwächte die Regierung auf der internationalen Bühne. Am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, in der es die politische Polarisierung und die staatliche Repression in Serbien verurteilte [3] und die Bedrohung der Medien, die anti-europäische und pro-russische Propaganda sowie die politische Verantwortung des Regimes für die Schwächung der Demokratie anprangerte. Die Resolution ist jedoch weiterhin unverbindlich, was die Zurückhaltung der EU im Umgang mit einem Partner unterstreicht, der als „unverzichtbar” für die regionale Stabilität gilt.
Weder Brüssel noch Moskau: für einen internationalen Balkan
Durch das Angebot relativer politischer Sicherheit an den Grenzen Europas und privilegierten Zugangs zu serbischen Märkten hat sich Vučić die Zufriedenheit Brüssels und Paris‘ gesichert. Während ihres Besuchs in Belgrad Anfang Oktober forderte Ursula von der Leyen den Präsidenten auf, „Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit” zu erzielen [4]: eine sehr schwache Reaktion auf eine groß angelegte Bewegung, die gewaltsam unterdrückt wurde. Mit seinem Einsatz für Stabilokratie entscheidet sich die EU für autoritäre Stabilität statt für Demokratie [5], eine Kalkulation, die einen geopolitischen Status quo fördert, der den Autoritarismus festigt und die regionale Instabilität verstärkt.
Das Erbe des blockfreien Jugoslawiens hat Belgrad eine Tradition des „dritten Weges“ hinterlassen. Seit dessen Zusammenbruch hat sich diese Position zu einer strategischen Mehrdeutigkeit gewandelt. Während Serbien über seinen EU-Beitritt verhandelt, unterhält es enge Beziehungen zu China und Russland.
Die Europäische Union übt normativen und wirtschaftlichen Imperialismus aus, indem sie ihre demokratischen und kommerziellen Standards durchsetzt und gleichzeitig der wichtigste Investor des Landes bleibt. Diese Abhängigkeit geht mit politischem Druck einher, insbesondere in der Frage der Sanktionen gegen Moskau. Russland seinerseits verkörpert symbolischen und Energie-Imperialismus: Gazprom kontrolliert einen großen Teil des Sektors, und der Kreml unterstützt Belgrad in der Kosovo-Frage.
Für Vučić ermöglicht es ihm, diese Doppelrolle zwischen Brüssel und Moskau zu spielen, seine interne Legitimität zu stärken und seine Position auf der internationalen Bühne zu behaupten. Gefangen zwischen zwei Blöcken, von denen keiner einen emanzipatorischen Ausweg bietet, sieht sich das serbische Volk seiner Souveränität durch ein Spiel gegenseitiger Abhängigkeiten beraubt.
Die einzige progressive Perspektive besteht nun darin, eine soziale Front aufzubauen, die in der Lage ist, sich von jeglicher externen Kontrolle zu befreien und eine autonome Demokratie wiederaufzubauen.
In diesem Kontext, in dem der Internationalismus wieder an Bedeutung gewinnt, reiste im Mai eine französisch-belgische Delegation aus Aktivist:innen der NPA und der Gauche anticapitaliste nach Belgrad. Ende Oktober kehrten sie anlässlich der Gedenkfeier in Novi Sad dorthin zurück, um sich mit Gewerkschaften, Student:innengruppen und Aktivist:innen zu treffen. Ein ausführlicher Bericht über unsere Diskussionen und die Perspektiven für eine regionale Organisation wird in Kürze veröffentlicht.
29. Oktober 2025
Fußnoten
[1] Europe Solidaire Sans Frontières, „Serbien. Erklärung der Sozialen Front“, 1. September 2025.
[2] Le Courrier des Balkans, „Étudiants face aux milices et à la police : la nuit où la Serbie a basculée“, 14. Oktober 2025.
[3] Europäisches Parlament, Entschließungsantrag zur Polarisierung und zunehmenden Repression in Serbien ein Jahr nach der Tragödie von Novi Sad, B10-0459/2025, 22. Oktober 2025.
[4] Le Courrier des Balkans, „Von der Leyen demande à Vučić « des progrès en matière d’État de droit» en Serbie”, 7. Oktober 2025.
[5] Luka Šterić, „Sortir de la „stabilocratie” : repenser l’approche française des Balkans occidentaux”, Fondation Jean-Jaurès, 2. Juni 2022.
Aus International Viewpoint. Maschinell übersetzt und auf grobe Fehler durchgesehen.