Der Revolutionär und der Seelenarzt. Helmut Dahmer: Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime

Rezension von Maunel Kellner

Der Autor des Klassikers Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke (die dritte erweiterte Auflage erschien 2013, urspr. 1982) ist dafür bekannt, die Werke von Marx und Freud als zwei verschiedene und doch verwandte Ansätze »kritischer Theorie« zu verstehen. Mit seinem neuen Buch führt er die Arbeit fort, beide Theorien miteinander zu konfrontieren und zu zeigen, wie sie sich wechselseitig befruchten können.

Der erste Beitrag dieses Sammelbands, der 158 Seiten umfasst, ist zugleich der wichtigste. Es folgt mit »Erinnerung an Rudolf Klement« die Würdigung eines unerschrockenen Revolutionärs und führenden Mitglieds der IV. Internationale, der von Stalins Schergen in Paris ermordet wurde. »Die Moskauer Prozesse und die kannibalischen Regime« ruft das Grauen in Erinnerung, dem unzählige Menschen zum Opfer gefallen waren, darunter die russischen Revolutionäre der Linken Opposition, die das Stalin-Regime fast vollständig ausgerottet hatte. »Die Unabhängigkeit der Ukraine, gestern und heute«, mit zwei Stellungnahmen von 2014 und 2022, die in manchem deutlich differieren, erinnert unter anderem an den »Holodomor«, als bis zu vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer 1932/1933 der »Zwangskollektivierung« Stalins zum Opfer fielen. Die Erinnerung an diese Katastrophe ist bis heute mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein eng verknüpft. Den Abschluss bildet »Zeitperspektiven der Revolution«, eine wirkliche Ermutigung für alle, die dazu neigen, ungeduldig zu werden, weil die angestrebte universale Emanzipation immer noch so fern scheint, obwohl die Zeit so sehr drängt.

Zwei Seelen in einer Brust

Trotzki war einer der wenigen »marxistischen« Revolutionäre seiner Zeit, der für die Psychoanalyse Freuds offen war. Dahmer zeigt das anhand einer Reihe von Zitaten. Zugleich »kontextualisiert« er die Überlegungen Trotzkis mit entsprechenden Einschüben geschichtlich und biografisch. Stalins Schreckensregime verfolgte und vernichtete auch Freundinnen, Freunde, Verwandte – Trotzki erlebte den Terror als eine Reihe persönlicher Katastrophen und Trauerfälle, bevor ihn 1940 der stalinistische Agent Ramón Mercader im Auftrag Stalins in Mexiko erschlug.

Libido und Gesellschaft bestand ursprünglich aus zwei Teilen: einer Rekonstruktion der Freudschen Psychoanalyse als kritische Theorie und einer Schilderung der Ideen verschiedener »Kombinationstheoretiker«, die Marx und Freud miteinander in Verbindung bringen wollten. Ein wichtiges Thema in diesem Buch sind die »Selbstmissverständnisse« der beiden illustren Vordenker kritischer Theorie: Freud träumte davon, dass die Psychoanalyse letztlich in physiologische Naturwissenschaft aufgelöst werden könne, Marx wiederum erschien seine kritische Durchdringung der kapitalistischen Produktionsweise und der Klassengesellschaften manchmal als eine Art von Naturwissenschaft. Beide hatten es aber mit Menschen zu tun, die von einer gesellschaftlich generierten Scheinnatur beherrscht werden.
Dahmer zeigt in seinem Buch sehr eindringlich die zwei Seelen in Trotzkis Brust, was das Verhältnis zur Natur und zur Natur in uns betrifft. Der eine war Rationalist und hat – aus heutiger Sicht – unglaubliche Sätze formuliert im Sinne der Utopie – eher Dystopie – einer völligen Beherrschung der Natur durch die Menschen. Da werden Flüsse umgeleitet, Berge versetzt, Eispanzer verflüssigt, die Menschen selbst umgemodelt, wobei der kommunistische Übermensch entsteht.

Dasselbe gilt für die Psyche, wenn Trotzki darüber theoretisiert. Gemäß dem Freudschen Schlagwort »Wo Es war, soll Ich werden«, stellt er sich den kommunistischen Supermenschen als einen vor, der das Unbewusste völlig überwältigt hat. Im Ergebnis haben wir einen Menschen, der alles nur rational überlegt. Wie reizend!

Die Gegenposition dazu leitet Dahmer überzeugend aus Trotzkis Hauptwerken ab, darunter insbesondere über die Russische Revolution (von 1917) – wenn der Revolutionär nicht seine Meinung über einen theoretischen Gegenstand sagt. Hier zeigt sich eine ganz andere Nähe von Trotzki zu Freud, wenn er zum Beispiel über seine Rolle als Redner im Zirkus Modern spricht. Der Redner weiß, was er sagen will, und doch steht nicht fest, was er sagen wird. Die Massen, die ihm zuhören und voller Erwartung sind, legen ihm Worte in den Mund, an die er vorher gar nicht gedacht hatte. Das Unbewusste und das Bewusste knüpfen eine neuartige produktive Verbindung an.

Das Proletariat und der Analysand im Sinne von Marx und Freud haben eins gemeinsam: Sie können im Klassenkampf und in der »talking cure« (das Geschenk der Anna O.) zu bewussten Tätern ihrer Taten werden. Sie erobern sich Terrain im Sinne der eigenen Selbstbestimmung. Von reinen Objekten (der Ausbeutung und des Wiederholungszwangs) werden sie zu Subjekten der eigenen Lebensgeschichte.

Helmut Dahmer: Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime. Münster: Westfälisches Dampfboot 2022. 277 S., 30 Euro