Der lange Marsch der Grünen

Nicht einmal für den Kampf gegen rechts sind die Grünen heute noch brauchbar – so weit sind sie selber nach rechts gerückt

von Gerhard Klas

Schutz gegen Polizeigewalt? Klimapass für Geflüchtete? Autobahnbau stop? Aufklärungsarbeit bei den NSU-Morden? Mit den Grünen nicht zu machen.

18. Mai 1983, die grüne Jugend gab es noch nicht. Die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen, Immobilienspekulation in den Großstädten und Jugendarbeitslosigkeit waren politische Top-Themen. Der Bundestag tagte damals noch in Bonn. Er veranstaltete eine Jugend-Fragestunde mit anschließender Debatte über «Jugendprotest im demokratischen Staat».

Die Grünen, zwei Monate zuvor erstmals im Bundestag, hatten Besetzer von zwei Häusern in Berlin nach Bonn eingeladen. «Die Jugend» kam kaum zu Wort kam, vor allem die Beset­zer:innen protestierten mit Flugblättern und Parolen, der Bundesadler wurde mit Farbbeuteln etwas bunter gestaltet.

Nach kleineren Rangeleien landeten die Besetzer:innen anschließend in Polizeigewahrsam. Die grüne Bundestagsfraktion äußerte Verständnis: «Seit Jahren wurde ein Monolog der Bonner Politiker über die Jugend geführt, anstatt sich wirklich demokratisch mit den Jugendlichen auseinanderzusetzen», so ihre Stellungnahme zu den Vorfällen. «Massenvernichtungsmittel, Umweltzerstörung und Jugendarbeitslosigkeit» hätten nicht auf der Tagesordnung gestanden. Die bürgerliche Presse benutzte das als Steilvorlage, sprach von «Krawallen» und «Handgreiflichkeiten», die von den Grünen gerechtfertigt würden.

Demonstranten als Kriminelle

Wie anders war die Tonlage nach den linken 1.-Mai-Demonstrationen in diesem Jahr. «Barrikaden anzuzünden und gewaltsam auf Polizistinnen und Polizisten loszugehen, ist kriminell und in keinster Weise akzeptabel», äußerte Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gegenüber Bild. Dabei hatte die Polizei in vielen Städten die Situation eskaliert: In Berlin griff sie die Demonstration wegen «mangelnder Abstände» der Teilnehmenden an, als sie in eine enge Straße einbog, obwohl laut Augenzeugen fast alle Masken trugen.

In Köln setzte die Polizei mehr als ein Dutzend Teilnehmende fest, weil sie bei hellstem Sonnenschein zusätzlich zur vorgeschriebenen Maske noch eine Sonnenbrille trugen und deshalb gegen das Vermummungsverbot verstoßen hätten. Auch in Hamburg und Frankfurt schritt die Polizei mit unverhältnismäßig harten Mitteln ein – ganz anders als bei Querdenkern.
Aber es ist nicht nur die Tonlage, die sich bei den Grünen verändert hat. Schon lange haben sie, einstmals hervorgegangen aus der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung, eine andere politische Richtung eingeschlagen. In ihrem aktuellen Entwurf für ein Programm zur Bundestagswahl sucht die Partei mehr denn je die Anschlussfähigkeit an die bürgerliche Mitte. Unter der Überschrift «Deutschland. Alles ist drin» sind vor allem linke Anliegen herausgefallen.
Etwa in der Sozialpolitik. Die war zwar noch nie eine Stärke der Grünen, 2002 haben sie zusammen mit der SPD die sog. Hartz-IV-Gesetze beschlossen. Heute zeigt sich die grüne Bundestagsfraktion wegen der harten Sanktionen gegen Erwerbslose und der völlig unzulänglichen Höhe des Arbeitslosengelds immer mal reumütig.

Erst im Mai 2020 hatte sie berechnet, dass ein Erwachsener 603 Euro statt 432 Euro im Monat bekommen müsse. Doch diese Zahl fehlt im Programmentwurf. Stattdessen versprechen die Grünen nur noch, die Regelsätze «schrittweise» anzuheben. In Verhandlungen mit der Union ließe sich damit selbst ein kleiner Aufschlag von einigen Euro aus grüner Sicht noch als Erfolg verkaufen. Gegenüber dem letzten Wahlprogramm fehlt auch die Reform der Erbschaftsteuer – ein Instrument, ohne das es einen nennenswerte Umverteilung des Reichtums nicht geben wird.

Außen- und sicherheitspolitisch wollen die Grünen Militäreinsätze auch ohne UN-Mandat durchführen. Noch im Dezember 2020 hatte die Bundestagsfraktion in einem Antrag das Verbot bewaffneter Drohnen bekräftigt. Im Entwurf findet sich das Wort «Drohne» nun gar nicht mehr.

2019 hatten die Grünen in ihrem Europawahlprogramm einen «Klimapass» für Geflüchtete gefordert. Er sollte Menschen, die durch die Klimakrise ihre Heimat verlieren, Zugang zu anderen Staaten verschaffen. Auch davon ist im Wahlprogramm für den Bundestag keine Rede mehr.

Verfassungsschutz schützen

In Hessen, wo die Partei als Juniorpartner der CDU mitregiert, ist der Wandel der Grünen besonders weit vorangeschritten. Die vermeidbare Zerstörung des Dannenröder Walds zugunsten des Baus der Autobahn A49 konterkariert die umweltpolitische Rhetorik der Partei wie sonst nur die langjährige Liebe des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann für den Verbrennungsmotor.
In Hessen ordnen die Grünen auch den Kampf gegen rechts dem Koalitionsfrieden unter. 134000 Menschen, darunter viele Angehörige der Opfer, haben in einer Petition die Veröffentlichung geheimer Papiere der hessischen Landesregierung zu den Morden der Terrororganisation NSU und zur Rolle des Landesverfassungsschutzes gefordert. Im Mai lehnte sie der Landtag mit den Stimmen der Grünen ab. Eine Veröffentlichung drohe die Arbeit des Verfassungsschutzes zu erschweren oder gar zu behindern, so der Fraktionschef Mathias Wagner, sie könne «Leib und Leben» von Informant:innen über die rechte Szene gefährden.
Die politischen Entscheidungen auf Landesebene, der Entwurf für das Wahlprogramm zum Bundestag und die Äußerungen der Kanzlerkandidatin zum 1.Mai sind ein deutlicher Hinweis auf den Koalitionsgehorsam, den die Grünen nach der Bundestagswahl bei einer gemeinsamen Regierung mit der CDU an den Tag legen werden.