›Der Krieg in Gaza vernebelt die Erinnerung an den Holocaust‹
Nicht die Unterscheidung zwischen Juden und dem Staat Israel ist antisemitisch, sondern ihre Gleichsetzung, meint Enzo Traverso
von Angela Klein
Enzo Traverso, der italienische Historiker mit Schwerpunkt auf Totalitarismus und Erinnerungspolitik, gab in einem Interview mit dem französischen Online-Portal Médiapart seiner Sorge Ausdruck, dass der Krieg in Gaza, geführt auch im Namen der Erinnerung an den Holocaust, zu einem Anstieg des Antisemitismus führen wird. Wie kommt er zu dieser Aussage?
Traverso erinnert zunächst an die lange Geschichte des Antisemitismus in Europa: Gegen Ende des 18.Jahrhunderts seien die jüdischen Gemeinden in der Diaspora auf eine politische Moderne getroffen, die zunehmend von Nationalismus geprägt war. Nationen waren als ethnische und territoriale Gemeinschaften konzipiert, Kriterien, die auf die jüdische Bevölkerung nicht zutrafen. Juden wurden deshalb als ein Fremdkörper betrachtet.
Im 19.Jahrhundert wurde die Welt säkularer, das wirkte auch auf die jüdische Bevölkerung: Einerseits entfernte sich ein Teil von ihnen allmählich von der Religion und nahm begeistert die Ideen der Aufklärung auf; andererseits sahen sie sich mit Feindseligkeit und Antisemitismus konfrontiert. Vor diesem Hintergrund »wurden sie zu einem Hort des Kosmopolitismus, des Universalismus und des Internationalismus. Sie schlossen sich allen Strömungen der Avantgarde an und verkörperten das kritische Denken«, sagt Traverso. Als Symbolfigur dieses »nonkonformistischen und machtfeindlichen Judentums« macht er u.a. den russischen Revolutionär Leo Trotzki aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Lage jedoch geändert. Die zionistische Lehre, die sich schon Ende des 19.Jahrhunderts entwickelt hatte und in Reaktion auf die Judenpogrome in Europa das Heil in der Gründung eines eigenen Staates Israel in Palästina sah, erhielt durch die Judenvernichtung durch Nazideutschland einen kolossalen Schub und konnte nach dem Krieg unter dem Schutz der britischen Kolonialmacht umgesetzt werden.
In einer historischen Umkehrung ist ein Volk, so schreibt Traverso, »das per Definition kosmopolitisch, diasporisch und universalistisch war, zur Quelle eines Staates geworden, der sich in Kriegen gegen seine Nachbarn aufgebaut hat, sich als exklusiver jüdischer Staat versteht und die Erweiterung seines Territoriums auf Kosten der Palästinenser plant«.
2018 hat die Definition Israels als Staat der Juden sogar Aufnahme in das Grundgesetz des Landes gefunden (durch Einführung des sog. Nationsgesetzes, siehe SoZ 9/2018). In §1 heißt es da: »Das Land Israel, in dem der Staat Israel gegründet wurde, ist die historische Heimat des jüdischen Volkes. Dieser Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein Recht auf nationale, kulturelle, historische und religiöse Selbstbestimmung ausübt. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzigartig für das jüdische Volk.«
Die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (siehe SoZ 5/2021) konstruiert das Recht auf nationale Selbstbestimmung geradezu im Gegensatz zu den Rechten der Minderheiten, wenn sie dort definiert, antisemitisch sei, »das Selbstbestimmungsrecht von Juden abzulehnen, etwa zu behaupten, Israel sei ein rassistisches Projekt«.
Die Gleichsetzung der Juden als Volk mit ihrem Staat birgt ein Problem: Als antisemitisch gilt nämlich, wenn Juden kollektiv für Israels Politik verantwortlich gemacht werden. Das ist das, was gerade passiert, wenn Anschläge auf Synagogen verübt oder ein ziviles israelisches Flugzeug wegen der Vorkommnisse in Gaza gestürmt wird. Was aber tun mit einem Staat, der seinem Selbstverständnis nach eben diese Gleichsetzung vornimmt? Kritische Jüdinnen und Juden bestehen deshalb immer darauf: Was die israelische Regierung tut, tut sie »nicht in unserem Namen«.
Der Antisemitismus wird befeuert
Nicht die Unterscheidung zwischen Juden und ihrem Staat ist antisemitisch, sondern ihre Gleichsetzung. Bislang konnten Kritiker:innen des Staates Israel in Deutschland ihr Recht auf Meinungsfreiheit in der Regel verteidigen. Diese Lücke soll nun offenbar geschlossen werden. Zunehmend ist von einem »antiisraelischen Antisemitismus« die Rede, der häufig dann ins Feld geführt wird, wenn sich Kritik am israelischen Staat und seinen militärischen Operationen gegen die Palästinenser artikuliert. Das richte sich, so wird argumentiert, gegen »sein Recht, sich zu verteidigen und geschützt in einem Staat zu leben«.
Der Antisemitismus-Vorwurf wird damit zur Keule gegen Kritiker:innen der israelischen Regierung. Diese hochgradige Identifikation mit einer faschistoiden Regierung befeuert nicht nur Meinungsterror und Gesinnungsjustiz. Sie birgt auch die Gefahr, den Antisemitismus zu befeuern. Traverso wendet sich dagegen, dass die Offensive der Hamas in eine Linie mit dem Holocaust gestellt wird und die Erinnerung an den Holocaust benutzt wird, um die israelischen Massaker in Gaza zu rechtfertigen. Er sagt:
»Einerseits war der Angriff der Hamas am 7. Oktober ein entsetzliches Massaker, das durch nichts zu rechtfertigen ist. Andererseits nimmt das, was heute in Gaza geschieht, Züge eines Völkermords an, der gestoppt werden muss … Ich bin mir bewusst, dass der Begriff Völkermord nicht leichtfertig verwendet werden darf … dass er immer wieder politisch verwandt wurde, um Feinde zu stigmatisieren oder Erinnerungsanliegen zu verteidigen. Das stimmt, aber der Begriff existiert und die einzige normative Definition, die uns zur Verfügung steht, nämlich die der UN-Konvention von 1948, entspricht der heutigen Situation in Gaza. Ein völkermörderischer Krieg, der im Namen der Erinnerung an den Holocaust geführt wird, kann diese Erinnerung nur beleidigen und diskreditieren.«
»Viele Juden sind Antizionisten«, sagt Traverso. »Das hat nichts mit Antisemitismus oder der Vertreibung der Juden aus Palästina zu tun. Es gibt eine israelische Nation, die existiert, die lebendig und dynamisch ist und die das Recht hat zu existieren.« »Aber«, ergänzt der Historiker, »ich glaube auch, dass diese Nation mit der politischen Einheit, die sie heute repräsentiert, keine Zukunft hat. In der globalen Welt des 21. Jahrhunderts ist ein Staat, der auf exklusiven ethnischen und religiösen Grundlagen beruht, eine Fehlentwicklung, in Palästina wie anderswo.«
»Die Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust ist nicht neu … Wenn der Holocaust erwähnt wird, dann um den Antisemitismus als Schlüssel zur Erklärung des 7. Oktober darzustellen und sich über die Welle der Solidarität mit den Palästinensern im globalen Süden zu wundern oder gar zu empören … Was am 7.Oktober geschah, ist [dann] nicht Ausdruck von Hass, der durch Jahrzehnte systematische Gewalt und Enteignung der Palästinenser erzeugt wurde; es ist eine neue Episode in der langen historischen Abfolge von Antisemitismus, vom mittelalterlichen Antijudaismus über die Pogrome im Zarenreich bis hin zum Holocaust. Diese Lesart dient dazu, die israelische Reaktion zu legitimieren.«
»Wenn es nicht gelingt, diese Kampagne zu stoppen, wird niemand mehr über den Holocaust sprechen können, ohne Misstrauen und Unglauben zu wecken; viele werden schließlich glauben, dass der Holocaust ein Mythos sei, der erfunden wurde, um die Interessen Israels und des Westens zu verteidigen … Die Erinnerung an den Holocaust als ›Zivilreligion‹ der Menschenrechte, des Antirassismus und der Demokratie würde ad absurdum geführt … Wenn diese Erinnerung mit dem Davidstern identifiziert würde, der von einer Armee getragen wird, die in Gaza einen Völkermord vollzieht, hätte das verheerende Folgen. Alle unsere Bezugspunkte würden verwischt.«
»Wir würden in eine Welt eintreten, in der alles gleichgültig ist und Worte keinen Wert mehr haben. Unser Verständnis von Demokratie, die nicht nur ein System von Gesetzen und institutionellen Vorkehrungen ist, sondern auch eine Kultur, ein Gedächtnis und eine Sammlung von Erfahrungen, würde geschwächt werden. Der Antisemitismus, der historisch gesehen im Rückgang begriffen war, würde einen dramatischen Wiederanstieg erleben.«