Der Anfang vom Ende Jugoslawiens
Vor 30 Jahren erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit
von Heiko Bolldorf*
Am 25.Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien, die nördlichsten Teilrepubliken Jugoslawiens, ihre Unabhängigkeit. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die zum kompletten Zerfall Jugoslawiens führte.
Der Zerfall Jugoslawiens war von mehreren grausamen Kriegen begleitet. Oftmals werden diese mit «ethnischem Hass» erklärt. Diese Auffassung widerspricht jedoch den Fakten. Noch 1990 sprach sich bei einer repräsentativen Umfrage nur eine Minderheit von 16 Prozent für die Unabhängigkeit der verschiedenen Teile Jugoslawiens aus, in Kroatien traten gerade einmal 10 Prozent für die vollständige Unabhängigkeit ein.
Wie konnte es trotzdem so weit kommen?
Unbestreitbar trieben in den 80er Jahren Teile der intellektuellen und politischen Elite eine Renaissance des serbischen Nationalismus voran, die in anderen Landesteilen ebenfalls zu nationalistischen Reaktionen führte. Aber warum konnten nationalistische Akteure so stark werden? Das hatte auch mit tiefgreifenden ökonomischen Problemen Jugoslawiens zu tun.
Wachsende Ungleichheit
Nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 geriet Jugoslawien in Abhängigkeit von westlichen Krediten. Mit diesen wurden westliche Technologien gekauft, um Exportgüter herzustellen, deren Erlöse wiederum zur Begleichung der Schulden dienen sollten. Das hatte zur Folge, dass vor allem exportstarke Industrien in höher entwickelten Landesteilen (Slowenien, Kroatien, Vojvodina) gefördert wurden und das Ziel, in ärmeren Landesteilen wie im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina eine Angleichung der Lebensverhältnisse zu erreichen, dem untergeordnet wurde. Das führte zu allgemeiner Unzufriedenheit – ärmere Landesteile fühlten sich vernachlässigt, wohlhabendere wollten nicht mehr in ein «Fass ohne Boden» einzahlen.
Die Arbeiterselbstverwaltung, die ein demokratischeres Sozialismusmodell als das der Sowjetunion sein sollte, war insbesondere seit den Wirtschaftsreformen der 60er Jahre mit dem Ausbau von Marktmechanismen verbunden. Diese führten wiederum zu einer starken Konkurrenz zwischen den Regionen des Landes und zur Herausbildung regionaler Eliten.
Nach der Krise von 1973 wurde die Wirtschaftspolitik des Westens protektionistischer. Der jugoslawische Export ging drastisch zurück, das wachsende Handelsbilanzdefizit konnte nur mit immer neuen Schulden gedeckt werden, und nach Titos Tod musste Jugoslawien sich an den IWF wenden. Dieser verordnete dem Land eine neoliberale «Schocktherapie», gegen deren Folgen es in den späten 80er Jahren die größte Streikwelle der jugoslawischen Geschichte gab.
Das spalterische Gift des Nationalismus
Der Nationalismus bot den regionalen Eliten in dieser Situation die Möglichkeit, die Proteste in eine für sie ungefährliche Richtung zu lenken. In bestimmten Fällen – wie beim Textilkombinat «Borovo» in der kroatischen Stadt Vukovar – ist belegt, dass Nationalisten gezielt in Streikausschüsse gingen. Es wurde etwa zum Problem erklärt, dass der Direktor ethnischer Serbe war.
Das Ziel der Eliten war, sich durch korrupte Privatisierung einen möglichst großen Teil des verbliebenen gesellschaftlichen Reichtums anzueignen. Nationalismus und Krieg würden die Bevölkerung unter ihrer Führung zusammenschweißen. Dabei gab es einen Interessengegensatz zwischen den Eliten in Slowenien und Kroatien, die keine Aussicht hatten, über ganz Jugoslawien zu herrschen und daher auf Abspaltung orientierten, und der serbischen Elite, die die Armee auf ihre Seite ziehen konnte und versuchte, durch Krieg einen möglichst großen Teil des jugoslawischen Marktes unter Kontrolle zu bringen.
Die Marktreformen der 60er Jahre trugen auch dazu bei, dass die jugoslawische Gesellschaft wieder patriarchalischer wurde. Einrichtungen wie Betriebskindergärten wurden als erste eingespart, um Betriebe «konkurrenzfähiger» zu machen. Im Rückblick war dies der Beginn einer Entwicklung, die in der systematischen Gewalt gegen Frauen in den Kriegen der 90er Jahre gipfelte.
Die Rolle der BRD
Regierungsnahe serbische Medien vertraten die These, Deutschland habe mit der völkerrechtlichen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens im Dezember 1991 planmäßig Jugoslawien zerschlagen. Manche Linke griffen diese These auf.
Die These ist jedoch nicht haltbar, denn die Anerkennung fand nach einem halben Jahr Krieg statt. Im Dezember 1991 war von Jugoslawien nichts übrig, was Deutschland hätte zerstören können. Das heißt jedoch nicht, dass es an der deutschen (und der westlichen) Balkanpolitik nichts zu kritisieren gäbe. Vor allem ist ihr vorzuwerfen, dass der nichtnationalistische Teil der jugoslawischen Bevölkerung für sie einfach nicht existierte. Und dieser war keinesfalls bedeutungslos: 1991 desertierten 50 Prozent der Reservisten in ganz Serbien, in Belgrad sogar 85 Prozent. Das trug maßgeblich dazu bei, dass die serbischen Truppen in Kroatien nach der Eroberung Vukovars im November 1991 nicht mehr vorankamen und der Krieg Ende 1991/Anfang 1992 abflaute.
Für die BRD war das aber kein Anlass, in der EG eine Initiative für die gemeinsame Aufnahme jugoslawischer Deserteure voranzutreiben – diese wurden vielmehr gnadenlos abgeschoben. Eine ökonomische Stabilisierungsperspektive hatte der Westen schon gar nicht zu bieten: Die jugoslawischen Nachfolgestaaten wurden in die EU integriert und bleiben im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung in der abhängigen Position, in die schon Tito-Jugoslawien mehr und mehr geraten war.
Alle Nachfolgestaaten haben ein Handelsbilanzdefizit gegenüber der EU, das sie durch Kredite zur Finanzierung von Importen decken. Überall sind die Exporte und der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt deutlich zurückgegangen. Diese Länder exportieren Arbeitskräfte in den Westen, etwa um Lücken in der deutschen Bauwirtschaft und Pflege zu schließen, und spielen die Rolle einer «verlängerten Werkbank» für das westeuropäische Kapital (Slowenien ist ein wichtiger Standort der Automobilzuliefererindustrie). In dieser Situation bleibt die einheimische Bevölkerung an der Seite der nationalistischen Eliten – von guten Beziehungen zur Regierungspartei hängt es z.B. ab, ob ein Job im öffentlichen Dienst zu bekommen ist. Ein neuer, föderativer, internationalistischer Ansatz ist bisher nicht in Sicht.
*Der Autor promovierte über das Thema «Die soziale Macht der Gewerkschaften in Kroatien» und arbeitet als Gewerkschaftsreferent.
Aus: SOZ, Sozialistische Zeitung, Juli/August 2021 https://www.sozonline.de/2021/07/der-anfang-vom-ende-jugoslawiens/