Brasilien: Bolsonaro macht weiter wie bisher

Katastrophen und Kriminalität im Land haben Bolsonaro zu einen taktischen Schlingerkurs genötigt. Ein Rutsch nach links? – Weit gefehlt.

  • João Machado

Brasiliens Bolsonaro-Regierung ist eine riesige Katastrophe und gefährliche Bedrohung: Ineffizienz angesichts der Covid-19-Pandemie, verheerende internationale Beziehungen, eine gezielte Anti-Umwelt-Politik, Angriffe auf demokratische Institutionen, Menschenrechte und die (labilen) Errungenschaften der Zivilisation. Die von der Regierung verfolgte Politik bezüglich der indigenen Völker geht in Richtung Völkermord. Und auch schon vor der Pandemie war die dortige Wirtschaftspolitik ein Fehlschlag. Brasilien ist das Land, das weltweit in puncto Covid-19-Infizierte und -Tote die zweithöchsten Fallzahlen aufweist und mit mehr als 125 000 Toten nur noch hinter dem traurigen Spitzenreiter USA liegt. Das Bild könnte sogar noch schlimmer sein, wäre Bolsonaro nicht durch Gerichtsentscheidungen daran gehindert worden, seine politische Linie durchzusetzen.

Die Regierung ist kriminell, auch von einem rein rechtlichen Standpunkt aus. Etliche von Bolsonaros Aktionen sind Verbrechen und seine Familie pflegt enge (und wohlbekannte) Verbindungen zum „gewöhnlichen“ organisierten Verbrechen im Land, vor allem zu den sogenannten „Milizen“ des Staates Rio de Janeiro. Ein schneller Rücktritt Bolsonaros von der Regierung ist daher dringend nötig. Bis Juni schien sich auch alles in Richtung eines Umsturzes zu entwickeln. Doch jetzt hat sich die Situation verändert.

Vor dem 18. Juni

Umfragen zeigten, dass die Ablehnung gegenüber Bolsonaro vor allem nach dem Beginn der Pandemie wuchs, wobei er allerdings noch immer von etwa einem Drittel der Bevölkerung unterstützt wurde. Der Plan, eine neue, komplett von der Bolsonaro-Familie und ihren loyalsten Verbündeten, der „Allianz für Brasilien“, geführte Partei zu gründen, war ein Fehlschlag. Bis Juni wurden die ständigen Bedrohungen von Demokratie- und Menschenrechten noch verstärkt durch Bolsonaros auf Zeit spielenden Versuch einer Konfrontation mit Kongress und Oberstem Gerichtshof sowie mit Gouverneuren von Bundesstaaten und Bürgermeistern. Es erboste ihn, dass er seine politischen Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. Zudem liefen diverse strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn, die ihm gefährlich werden konnten (wegen Verbrechen, die von seinen Unterstützern, ja sogar von bewaffneten Gruppen begangen wurden, aber auch von seinen Söhnen, beispielsweise die Verbreitung von bewussten Falschmeldungen [Fake News] und Drohungen gegen Behörden.)

Pro-Bolsonaro-Aktivist*innen organisierten wöchentlich Demonstrationen, vor allem in der Hauptstadt Brasilia, um den Obersten Gerichtshof und den Kongress sowie die Presse und weitere Institutionen zu attackieren (und manchmal direkt zu bedrohen). Zu mehreren Gelegenheiten war dabei auch Bolsonaro vor Ort (was juristisch gesehen bereits genügt hätte, um ihn aus dem Präsidentenamt zu entfernen). Laut einem (von Bolsonaro nicht abgestrittenen) Bericht im Monatsmagazin Piauí erreichte Bolsonaros Aggression am 22. Mai ihren Höhepunkt, als er beschloss, gegen den Obersten Gerichtshof vorzugehen, um dessen Richter auszutauschen, mit dem Ziel, „die Autorität des Präsidenten wiederherzustellen“. Dem Magazin zufolge wurde dieser Plan nur deshalb nicht umgesetzt, weil Bolsonaros eigene Militärminister ihm klarmachten, dass dies nicht durchführbar sei.

Alles deutete darauf hin, dass die Fortsetzung dieser bis dahin von Bolsonaro verfolgten Konfrontationsstrategie letztendlich seinen Rücktritt erzwingen würde. Doch dann begann Bolsonaro, seine Strategie zu ändern. Er gab einfach eines seiner zentralen Wahlkampfthemen auf, den Kampf gegen die Korruption. Das ermöglichte es ihm, mit einer „centrão“ [Zentrum] genannten Gruppe rechtsradikaler Parlamentsmitglieder eine Unterstützerbasis im Kongress aufzubauen. Bei dieser Gruppe handelt es sich um die allerkorruptesten PMs, die ihre Unterstützung im wahrsten Sinne des Wortes verkaufen und während des Wahlkampfes von Bolsonaro heftig attackiert worden waren.

Nach dem 18. Juni

Am 18. Juni wurde Fabrício Queiroz, ein enger Freund (und Komplize) Bolsonaros, verhaftet. Die Anklage lautete auf Korruption (in Verbindung mit einem der Bolsonaro-Söhne, Flávio, und mutmaßlich mit Bolsonaro höchstselbst sowie dessen Frau, Michelle). Bolsonaro wurde klar, dass er Gefahr lief, direkt in die Ermittlungen mit einbezogen und verurteilt zu werden. Seit jenem Tag beteiligte er sich nicht mehr an den Protesten gegen den Obersten Gerichtshof und den Kongress, und bald darauf wurden auch von den Bolsonaristen keine Demonstrationen mehr organisiert. Die politische Einbindung seiner Söhne (die zum rechtsextremen Flügel seiner Unterstützer*innen gehören) wurde drastisch reduziert.

In Brasilien entscheidet der Präsident der Abgeordnetenkammer über die Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten der Republik. Der aktuelle Präsident, Rodrigo Maia, hat dies noch immer nicht getan, obwohl bei ihm mehr als fünfzig Anträge eingegangen sind, diesen Prozess zu beginnen. Anfang August sprach er sich dann während eines Fernsehinterviews schlussendlich gegen ein solches Verfahren aus. Er sagte, er glaube nicht, dass Bolsonaro irgendein Verbrechen begangen hätte, das seine Amtsenthebung rechtfertigen würde.

Maias Statement bedeutet nun nichts anderes, als dass der Großteil von Brasiliens „politischer Klasse“, die die vorherrschende Position der Bourgeoisie widerspiegelt, sich dafür entschieden hat, Bolsonaro an der Macht zu lassen. Das kann durch die (mehr als dubiose) Vorstellung erklärt werden, dass er „unter Kontrolle“ gehalten werden könne, oder ganz einfach durch die Tatsache, dass diese Klasse die sehr undemokratischen und genozidalen Aspekte der Regierung nicht ablehnt. Darüber hinaus hofft diese Klasse, dass Bolsonaro, obwohl er die meisten der unpopulären Maßnahmen, die die Bourgeoisie von ihm erwartet, noch nicht verkünden konnte, ihr dennoch von Nutzen sein könnte. Auch die brasilianischen Mainstream-Medien haben ihre kritischen Positionen Bolsonaro gegenüber relativiert, wenn auch (noch) nicht aufgegeben.

Die Auswirkungen der „Nothilfe“ und die Neuausrichtung der Regierung

Laut einer Umfrage stieg die Zustimmung zur Regierung am 14. August von 32 % auf 37 %, während die Ablehnung von 44 % auf 34 % fiel (im Vergleich zur vorherigen Umfrage im Juni). Der Trend der schrittweisen Abnahme in puncto Regierungsbeliebtheit hat sich gedreht. Am stärksten hat die Feindseligkeit gegenüber der Regierung bei den ärmsten Wähler*innen und im Nordosten des Landes (bisher die größte Unterstützungsbasis für Lula) abgenommen. Die vielleicht überraschendste Veränderung ist, dass 47 % der Befragten glauben, dass Bolsonaro in keiner Weise für die durch die Pandemie verursachten Todesfälle verantwortlich ist. 41 % glauben, dass er eine gewisse Verantwortung dafür trägt, und nur 11 % sind der Ansicht, dass er der Hauptschuldige ist. Der Hauptgrund für diese positive Änderung gegenüber der Regierung dürfte leicht auszumachen sein: Ein großer Teil der Bevölkerung hat seit April als Ausgleich für die wirtschaftliche Kontraktion aufgrund der Pandemie eine „Nothilfe“ erhalten.

Die Regierung hatte Hilfe in Höhe von 200 R$ (Reales) angeboten. Der Kongress allerdings zwang sie, diese Hilfe auf 600 R$ (was zum derzeitigen Wechselkurs umgerechnet etwas weniger als 100 € sind) bzw. in einigen Fällen auf 1200 R$ zu erhöhen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Maßnahme waren enorm und erheblich größer als erwartet. Mehr als 65 Millionen Menschen (bei einer Bevölkerung von 210 Millionen) haben davon profitiert. Damit erhöhten sich während der Pandemie die Einkommen des ärmsten Teils der brasilianischen Bevölkerung trotz der schweren Wirtschaftskrise (im zweiten Quartal sank das BIP um 9,7 %). Im Nordosten, der ärmsten Region des Landes, erhöhte sich das Durchschnittseinkommen um 26 %, im Norden um 24 %. Selbst in der reichsten Region des Landes, dem Südosten, stieg es um 8 %. Der Anteil der arbeitsrechtlich geschützten Bevölkerung beläuft sich auf weniger als 38 Millionen Menschen, knapp etwas mehr als die Anzahl derer, die „Nothilfe“ erhalten.

Ein weiterer wichtiger Vergleich: Das Programm „Bolsa Familia“, das Lula während seiner Regierungszeit eine erhebliche Unterstützung durch die Wählerschaft einbrachte, erreicht zurzeit knapp mehr als 14 Millionen Familien; sie erhalten durch das „Bolsa familia“-Programm im Schnitt etwas weniger als 200 R$ pro Monat. Vom „Nothilfe“-Programm profitieren mithin sehr viel mehr Menschen und sie erhalten daraus sehr viel mehr Geld. Genaue Zahlen sind zwar nicht bekannt, die monatlichen Kosten für die „Nothilfe“ belaufen sich jedoch auf das etwa Zwanzigfache des „Bolsa familia“-Programms. Bolsonaro profitierte also von einem Sozialprogramm, das er so nicht aufgelegt hatte, seine Niederlage erwies sich für ihn jetzt als Vorteil. Genauso wie aufgrund der Tatsache, dass seine beabsichtigte Vorgehensweise hinsichtlich der Pandemie von Rechtsprechung und Gesetzgebung verboten worden war, es jetzt für ihn ein Leichtes ist zu sagen, dass „die Verantwortung für die Pandemie bei den Gouverneuren und Bürgermeistern liegt“. Der schwerste Rückschlag, den er hinnehmen musste, und die größte Gefahr, der er sich bisher ausgesetzt sah, nämlich die Verhaftung von Queiroz, veranlassten ihn, sein Verhalten in Bezug auf die wichtigsten Institutionen des brasilianischen Staates (zumindest teilweise) zu ändern. So war es der Bourgeoisie möglich, erneut mit ihm zusammenzuarbeiten.

Ein „linker“ Bolsonaro?

Bis vor Kurzem zeigte sich Bolsonaro den von den PT-Regierungen aufgelegten Sozialprogrammen gegenüber äußerst ablehnend. Jetzt hat er seine Haltung um 180 Grad gewendet und erweitert diese Programme zum Teil sogar, wobei er gleichzeitig ihre Namen ändert, damit sie als seine eigenen Großtaten erscheinen. Das Wohnungsbauprogramm, das bisher „Mein Haus, mein Leben“ hieß, wurde leicht abgewandelt und heißt jetzt „Das grüne und gelbe Haus“ (wobei Grün und Gelb die Farben der brasilianischen Flagge sind). Das „Bolsa Familia“-Programm soll erweitert werden und den Namen „Renda Brasil“ erhalten. Die „Nothilfe“ während der Pandemie wurde bis Ende 2020 verlängert, allerdings werden die auszuzahlenden Beträge in den letzten vier Monaten des Jahres halbiert. […]

Es ist sonnenklar, dass Bolsonaro absolut kein „Linker“ geworden ist, denn soziale Hilfsprogramme sind nicht „links“, selbst wenn sie erweitert werden. Darüber hinaus belasteten diese Programme den Haushaltsetat nur in sehr geringem Maße und wurden von der Weltbank und ähnlichen Institutionen gelobt.

Die „Nothilfe“ kostet erheblich mehr und wurde von der herrschenden Klasse nur im Zusammenhang mit der Pandemie unterstützt. In der Zeit nach der Pandemie wird sich die Bourgeoisie mit Macht dafür einsetzen, dass die ultra-orthodoxen Sparmaßnahmen, die Guedes versprochen hatte, wieder aufgenommen werden. […]

Perspektiven

Bolsonaro ist stärker geworden, obwohl er sich noch immer mehreren großen Risiken gegenübersieht, vor allem, was die diversen Ermittlungen gegen ihn und seine Verwandtschaft angeht. Die in jüngster Zeit hinzugewonnene Unterstützung (wie z. B. die durch die centrão) steht auf wackligen Füßen, genauso wie er sich der ihm gegenüber wohlwollenden Toleranz durch den Großteil der Bourgeoisie nicht wirklich sicher sein kann. Darüber hinaus hat er sich inzwischen einige jener Personen, die für seinen Wahlsieg verantwortlich waren, wie z. B. der vormalige Richter Sergio Moro, zu Feinden gemacht. Obwohl die ablehnende Haltung der Öffentlichkeit gegenüber der Regierung abgenommen hat, bleibt ein großer Teil der Gesellschaft bei seiner stark oppositionellen Einstellung. Sogar unter Pandemiebedingungen gab es Massenproteste gegen die Regierung, und es gibt diese Proteste noch immer.

Bolsonaros Position wird andererseits nicht nur durch die Tolerierung seitens der Bourgeoisie und die Komplizenschaft mit den rechten Parteien begünstigt. Sie zieht auch Vorteile aus den Schwächen der Opposition, die in grundsätzlichen Fragen mit der Regierung zusammenarbeitet. Die Gouverneure der PT und der PC do Brasil haben z. B. in den von ihnen regierten Bundesstaaten „Reformen der sozialen Sicherungssysteme“ durchgesetzt, die den auf föderaler Stufe genehmigten Reformen gleichen, und Oppositionsbewegungen unterdrückt. Die Herausforderung, eine einheitlichere Opposition zu stärken, bleibt also bestehen, was den Teil der Volksbewegungen und der Parteien anbetrifft, die links von der PT stehen und eine Linie der Klassenunabhängigkeit verfolgen.

20. September 2020

Aus: http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article6822

Übersetzung mit Berücksichtigung der französ. Version: Antje H.

Der Artikel erschien auf Deutsch in Die Internationale Nov./ Dez. 2020 http://www.inprekorr.de