Jetzt sprechen die Zeug*innen! Zur Pfefferspray-Attacke der Polizei in Innsbruck auf die Demo „Grenzen töten“ für eine humanere Flüchtlingspolitik und gegen das EU-Grenzregime vom 30. Jänner 21.
Nun liegen endlich die Videos von Zeug*innen der Demo vor, siehe: https://youtu.be/X-9vY5WONnk
youtube-Kanal Solidarisches Innsbruck: https://www.youtube.com/channel/UCXzQdmSpgl0uQZmOyOpzxlA
Erklärung besorgter Menschen aus der demokratischen Zivilgesellschaft
Wir erleben eine Zeit von Krisen und Konflikten in der Gesellschaft, die sich zuspitzen (Pandemie, Wirtschafts-, Klimakrise und als Folge von Kriegen, Klimawandel und Ausplünderung Flüchtlinge usw.). Die Politik ist viel mehr gefordert, Lösungen zu entwickeln; zeigt sich aber offensichtlich der Situation nicht gewachsen. Die Polizei wird als „Ausputzer“ missbraucht und ist oft überfordert. Konkret im Vorfeld der Demo: Abschiebung von Kindern, die in Österreich aufgewachsen und bestens integriert sind in einer Nacht & Nebel-Aktion mit Spezialeinheiten, Polizeihunden und Brachialgewalt. Flüchtlinge werden in Lagern wie Moria und Kara Tepe in Schlamm und Kälte ihrem Schicksal überlassen. Das entmutigt nicht nur junge Leute, diese aber besonders. Und es lässt z.T. verzweifelte Emotionen hochkochen. Ein Hintergrund auf dem sich die Demo abgespielt hat. Gerade deshalb haben überraschend viele Menschen an der Demo teilgenommen, und auch viele Ältere nahme auch deshalb teil, um die Jugend nicht alleine zu lassen in ihrem Engagement für eine humanere Flüchtlingspolitik. Die Regierung zeigt aber ein extrem hohes Ausmaß an Ignoranz und Kaltherzigkeit. Kurz inszeniert sich seit Jahren als besonders übler Hardliner in der EU-Flüchtlingspolitik. Die Regierung hat sich seit der Koalition Kurz & Strache bei der Flüchtlingspolitik praktisch keinen Millimeter bewegt. Sie verweigert den Dialog mit karitativen Organisationen und mit der Gesellschaft. Um Rechtspopulisten bei Wahlen auszustechen, werden fremdenfeindliche Emotionen bedient. Türkise Flüchtlingspolitik rückt damit selbst stark nach rechts.
Zur Demo:
- Die Demo verlief bis zur Attacke der Polizei friedlich. Es wurden weder Polizeibeamte noch Passant*innen attackiert.
- Es waren 120 Beamt*innen im Einsatz, darunter auch Spezialkräfte. Es stellt sich die Frage, Wozu wurde ein so gigantisches Aufgebot eingesetzt?
- Die Zerschlagung eines Teils der Demo war von vornherein geplant und systematisch vorbereitet und hat keinen Anlass aus dem realen Verlauf der Demo heraus.
- Es gab keinen triftigen Grund für die heftige Attacke der Polizeikräfte durch den Verlauf der Demo selbst. Stattdessen werden im Nachhinein „Gründe“ vorgeschoben und ein Teil der Demoteilnehmer*innen dämonisiert. Gegen auf diese Weise als „böse“ Abgestempelte sind nach dieser Logik anscheinend alle Mittel erlaubt.
- Es wurde versucht, einen Teil der Demonstration zu isolieren und aufzureiben. Die Demoleitung wurde massiv unter Druck gesetzt, einen Teil der Demo aus der Gesamtdemo auszuschließen und der Polizeirepression preiszugeben. Die Demoleitung (ein junger Mann und Student mit 19 Jahren) sah dafür aber keine Veranlassung und hat sich geweigert, diesem Druck nachzugeben. Respekt!
- Was charakterisiert diesen Teil der Demonstration? Eine bunte Mischung von vor allem jungen Leuten, die rund um sich Transparente gespannt hatten, um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu unterstreichen und eine kämpferische Stimmung zu fördern.
- Für eine Auflösung der Demo durch die Behörde bestand kein stichhaltiger Grund. Das Argument von nicht eingehaltenen Abständen wirkt an den Haaren herbeigezogen, vor allem wenn man bedenkt, dass
- Die eingepferchten und zusammengedrängten Demoteilnehmer*innen keine Chance hatten, Abstände einzuhalten oder sich gar aufzulösen. Wohin hätten sie denn gehen sollen?
- Zahlreiche Demonstrationen von Corona-Verharmlosern und -leugnern, die demonstrativ keine Masken trugen und dies als große „Befreiungsaktion“ propagierten sowie auch Abstände meist nicht einhielten, blieben weitgehend unbehelligt durch den selben Einsatzleiter. Selbst unangemeldete Demonstrationen dieser Art wurden von der Polizei durch die Stadt eskortiert. Wegen Verletzung von Covid-Schutzmaßnahmen wurde nur in Ausnahmefällen von Seiten der Behörde interveniert und dann nur in der mildesten Form. Dies steht in krassem Gegensatz zur Vorgangsweise gegen die Demonstration für eine humanere Flüchtlingspolitik
- Es stellt sich die Frage nach der Rolle der Gesundheitsbehörde bzw. des Amtsarztes: Agiert sie nur als verlängerter Arm der Polizei, die je nach Lust &Laune einmal gerufen wird, um sich die Legitimation für einen Übergriff zu beschaffen und wird in anderen Fällen wieder gezielt weggeschaut, wenn es politisch opportun erscheint? Wer arbeitet hier eigentlich in wessen Auftrag? Die Gesundheitsbehörde muss unabhängig, objektiv und ausschließlich der Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich agieren!
- Das Vorgehen der Polizei war pure Überrumpelungstaktik und es blieb zwischen der Ankündigung und dem Angriff auf den eingekesselten Teil der Demonstration keine Zeit, sich aufzulösen.
- Unverhältnismäßige Gewaltanwendung (massiver und geplanter Einsatz mit Pfefferspray und Schlagstöcken) für dieses Ziel seitens der Polizei
- Gewalt auch gegen andere Demonstrationsteilnehmer*innen, die sich solidarisch verhielten und sich weigerten, angesichts von Gewaltanwendung durch Polizeikräfte und angesichts der verletzten Personen diesen einfach den Rücken zu kehren. Sie blieben friedlich stehen und erlaubten sich, zu fragen, warum das geschieht. Sie wurden daraufhin geschubst und mit Anzeigen bedroht. Anderen wurden Fahnen entrissen, sie wurden sogar sehr grob verhaftet und teilweise ebenfalls mit Pfefferspray „behandelt“. Dies traf vor allem Menschen, die der Polizei von ihrem Äusseren her eher nach Migrationshintergrund erschienen.
- Verletzte Demonstrant*innen wurde Hilfeleistung von Seiten der Polizei verweigert. Auch wurde anscheinend nicht die Rettung oder der Notarzt verständigt. Andere Demonstrationsteilnehmer*innen, die Hilfe leisten wollten, wurden davon abgehalten, geschubst, zum weggehen aufgefordert. Ein offensichtlich von Demonstrant*innen herbeigerufenes Rettungsfahrzeug wurde an der Zufahrt gehindert. Ist damit der Tatbestand unterlassener Hilfeleistung oder gar von Verhinderung von Hilfeleistung erfüllt? Ist die Polizei überhaupt befugt, Einsatzkräfte der Rettung, Notärzte oder die Feuerwehr an der Erfüllung ihrer Aufgaben zu behindern?
- „Wir fragen uns: Haben wir es mit einer „Privatpolitik“ des Einsatzleiters zu tun? Oder wurde die Vorgangsweise von oben oder von ganz oben angeordnet oder nur im Nachhinein von oben abgesegnet? Die bisherige Karriere des Einsatzleiters als Hardliner gegen Flüchtlinge, Bettler und Prostituierte lässt Übles befürchten. Warum erhält er freie Hand?
- Einzelne Beamte, die sich in „Rambo-Manier“ besonders aggressiv verhielten, worüber andere Polizeikolleg*innen sichtlich erschrocken oder irritiert waren. Sind das Eigenmächtigkeiten oder war das ganz im Sinne der Polizeiführung? Werden solche Beamte zur Rechenschaft gezogen oder belobigt und befördert?
- Sichtlich unerfahrenere Polizeikolleg*innen wurden nach vorne in Richtung „schwarzer Block“ geschoben und in eine Situation gebracht, für die sie nicht wirklich vorbereitet waren.
- Es fiel auf, dass gezielt schwächere, insbesondere weibliche Personen herausgegriffen und attackiert wurden. Sollte damit ein Schutzreflex kräftigerer Männer provoziert werden, um einen Vorwand für härtere Repressalien zu schaffen?
Es bleiben einige Fragen offen:
Welchen Stellenwert hat dieses Vorgehen der Polizeibehörde? Handelt es sich um eine einmalige Verfehlung oder um eine „Privatpolitik“ des Einsatzleiters F.G., die im Nachhinein von oben gerechtfertigt wurde? Handelt es sich um einen Versuch, eine politisch missliebige Szene zu zerschlagen, die von Seiten der Polizeiführung in Auftrag gegeben wurde? Wurde das Vorgehen gar auf Anweisung des Innenministers geplant? Oder handelt es sich um ein Versuchsfeld, um eine Art Manöver? Stehen wir am Beginn eines Prozesses, die Polizeibehörde langfristig von einer Organisation, die sich Service und Schutz der Bürger*innen sowie des Rechtsstaates auf die Fahnen heftet zunehmend zu militarisieren und zu einer Art „Bürgerkriegsarmee“ zu transformieren? Solche Tendenzen sind nicht nur aus den USA bekannt.
Unabhängig davon, ob eine bzw. welche dieser Vermutungen am ehesten zutrifft: Wir drücken unsere Sorge über diese Entwicklung aus und fordern, sie sofort zu stoppen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wir wollen, dass die Polizei die demokratischen Rechte der Menschen achtet und den Rechtsstaat (als aktuellen Kompromiss der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse) beschützt. Wir warnen vor autoritären Tendenzen und rufen zur Wachsamkeit in dieser Hinsicht auf.
Die Politik muss wieder ihrer Kernaufgabe nachkommen und Lösungen auch für schwierige Fragen (Flüchtlingspolitik, Krisenbewältigung, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz…) entwickeln und sich um die Akzeptanz der Mehrheit in der Bevölkerung bemühen. Das geht nur auf dem Weg des demokratischen Dialogs mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Wir lehnen es ab, dass die Polizei die ungelösten Probleme lösen soll oder gar – stellvertretend für den demokratischen politischen Prozess – beginnt, selbst eigenmächtig Politik zu betreiben.
Was ist zu tun?
- Einstellung der Verfahren gegen die Teilnehmer*innen der Demo
- Evaluierung der Eskalationsstrategie und Vorgangsweise des Einsatzleiters F. G. und einzelner Vorgesetzter und Beamter sowohl polizeiintern als auch durch eine von der Polizeibehörde unabhängige Kommission und Erarbeitung von Empfehlungen für eine Kurskorrektur; Überprüfung der Qualifikation des Einsatzleiters für derartige Einsätze;
- Untersuchung, warum medizinische Hilfe für verletzte Personen unterlassen bzw. behindert wurde (Keine Hilfe durch Beamte, Weigerung, Rettung anzufordern, Behinderung von Umstehenden an der Hilfeleistung, Blockierung der Zufahrt für Rettungsfahrzeug)
- Stopp von „Racial Profiling“ und diskriminierendem Verhalten durch Polizeibeamte – Schulung in nichtdiskriminierendem Verhalten
- Öffentliche Selbstkritik und Entschuldigung der Polizeiführung bzw. des Innenministers, um sich für die unangemessene Vorgangsweise zu entschuldigen und Maßnahmen, um diese Tendenz zu stoppen.
- Entschädigung der Betroffenen
- Umsetzung der „3D Strategie” (Dialog, Deeskalation, Durchsetzung) und Schulung in dieser Hinsicht
- Konsequenzen auf der Ebene Strategie, Kompetenzverteilung und personelle Besetzung
- Supervision für Polizeibeamte, um derartige Stressituationen und Konflikte besser reflektieren und verarbeiten zu können.
Videos und Materialien:
Zeug*innen Zusammenfassung (20 min) https://youtu.be/X-9vY5WONnk
Zeugin 1: https://youtu.be/ZBbYNimh7ts
Zeugin 2: https://youtu.be/7N0OfLP3uho
Zeuge 3: https://youtu.be/O4iuYdDUwIA
Zeuge 4: https://youtu.be/Ac_2-k6xEBE
Zeuge 5: https://youtu.be/6xaaVgsP2GA
Zeugin 6: https://youtu.be/cBG0T_8tq9M
Zeugin 7: https://youtu.be/NEBvvrOXbkk
Video von der Demo: https://www.youtube.com/watch?v=oHtRPcjE8N4
Parlamentarische Anfrage Barbara Neßler, Georg Bürstmayr & Freundinnen und Freunde: https://iwww.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/J/J_05228/index.shtml
Dossier „Polizeigewalt“ auf Innsbruck News https://aibk.org/dossier-polizeigewalt/
Artikel „Geplante Eskalation“ auf Innsbruck News https://aibk.org/die-geplante-eskalation/
Presseaussendung der Veranstalter der Demo:
Initiative „Solidarisches Innsbruck“ Tel. 0680 4029971 bzw. Mail w.hanser@gmx.at