20 Jahre Genua: Kampfansage gegen den Kapitalismus
von Anja
Heute vor 20 Jahren fanden in Genua die Proteste gegen den G8-Gipfel statt. Ich war damals mit 250.000 anderen Menschen auf der Straße und habe gegen den Kapitalismus gekämpft. Die Proteste markierten nur den Endpunkt einer langen, intensiven Vorbereitungs- und Mobilisierungsarbeit.
„Genua“ bedeutete das Ende des unwidersprochenen Neoliberalismus, es brachte die politische Linke zurück in die Arena. Wir wollten zeigen, dass der Kapitalismus nicht das „Ende der Geschichte“ ist, dass es Widerstand und Widerspruch und schlussendlich auch Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem gibt. Dazu war es wichtig, linken Protest, linkes Gedankengut in die Massenmedien zu transportieren, um den neoliberalen Konsens, der die öffentliche Debatte vollkommen dominierte, zu zerstören. Aus der Erfahrung heraus, stets totgeschwiegen zu werden, folgerten wir, dass wir den Gipfel eine Weise stören mussten, die es unmöglich machte, uns zu ignorieren. Deshalb versuchten wir, in die „Rote Zone“ zu kommen und zu blockieren.
In den letzten Tagen wurde viel Kritik an der „Bewegung der Bewegungen“ geübt, in der „Jungen Welt„, der „taz“ und der bürgerlichen Presse sowieso. „Analytische Schwäche“ und „fehlende Organisation“ wirft man uns vor. Beides stimmt. Beides war jedoch in der konkreten historischen Situation nicht besser leistbar. Die politische Linke war nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus desorientiert, geschlagen und eingeschüchtert. Keine wie auch immer geartete einheitliche Analyse hätte irgendein Mobilisierungspotenzial gehabt. Bewegung gab es – wenn überhaupt – nur noch als „Ein – Punkt“ – Bewegungen. Also hieß es, diese zu vereinen zu einer „Bewegung der Bewegungen“ und „fragend voranzugehen“ (eine Haltung, die die Bewegung von den Zapatistas in Mexiko übernommen hatte). Zugleich war der Linken mit der Geschichte ihr revolutionäres Subjekt abhanden gekommen. Die Reprekarisierung der Arbeit sowie ein deutlich internationalerer Blick als noch vor 1990 ließ die Existenz der ArbeiterInnenklasse für manche zweifelhaft werden. Negri und Hardt warteten mit dem Begriff der „Multitude“ auf, der vielfältigen Arbeits- und Lebensweisen, die sich im Widerspruch zum Kapitalismus befänden. Die „Multitude“ blieb in der globalisierungskritischen Bewegung von Anfang an alles andere als unwidersprochen. Vielen war sie viel zu schwammig, zu nah an der Identitätspolitik, mehr verhüllend als erhellend. Diese GenossInnen plädierten für die Beibehaltung des Begriffs der Arbeiterklasse, bzw. brachten diesen wieder neu ins Spiel. Kurzum: zumindest die deutsche globalisierungskritische Bewegung traf sich spätestens mit Genua und sicherlich nicht ganz ohne das Zutun von Linksruck wieder bei Marx.
In Genua war eine illustre Mischung von Tutte Bianchi, TrotzkistInnen, klassischen GewerkschafterInnen, Rifondazione Communista, Attacies und KatholikInnen auf der Straße. Wir wandten uns gegen die durch Standorterpressung erwarteten Absenkungen von Löhnen, Arbeits- und Umweltstandards, gegen die Privatisierung von Bildung, Gesundheit und öffentlichen Gütern und gegen die Zerstörung unseres Klimas (zeitgleich fand in Bonn ein Klimagipfel statt, gegen den es ebenfalls – medial völlig unterbelichtete – Proteste gab, die sich uns später via Zug anschlossen). Wir wollten mit unseren GenossInnen aus anderen Ländern gemeinsam dort demonstrieren, wo die Regierungschefs zusammenkamen, um ihrerseits Entscheidungen zu treffen, die unser aller Leben bestimmten. Wir wussten, ein gemeinsamer Kampf über nationalstaatliche Grenzen hinweg war nötig, um die Angriffe in den einzelnen Ländern abzuwehren.
Die „taz“ resummierte, was von Genua geblieben sei, sei, dass die DemonstrantInnen dem „Faschismus ins nackte Auge gesehen hätten“. Das ist sicherlich nicht ganz falsch. In Italien herrschte damals eine Koalition aus Forza Italia (den Rechtspopulisten von Ministerpräsident Berlusconi), der Lega und der Alleanza Nationale, die sich rühmte, die direkte Nachfolgerin der Nationalen Faschistischen Partei Mussolinis zu sein. Bereits im Vorfeld machten Berlusconi und sein Innenminister Fini von der AN klar, dass sie vorhatten, aufkeimenden Widerstand von links mit aller Härte zu zerschlagen. Man prahlte damit, bereits 200 Leichensäcke bestellt und der Polizei die Erlaubnis zu schießen erteilt zu haben. Man wolle Italien von den Kommunisten „säubern“. Die EU unterstützte die rechte Regierung in Italien und setzte das Schengener Abkommen außer Kraft, so dass eine Einreise nach Italien nur mit Grenzkontrollen möglich war. Uns war es egal.
Bereits 2 Tage vor den Protesten trat ganz Italien in den Generalstreik. Am 19.7. gab es eine Demo für die Rechte von MigrantInnen und gegen das europäische Grenzregime, am 20.7. marschierten die verschiedenen Gruppen getrennt. Auffällig dabei war, dass ALLE Demonstrationszüge mit Ausnahme des „Black Block“ von der Polizei angegriffen wurden. Selbst KatholikInnen, die für den Frieden beteten, wurden eingegast. Besonders hart traf es die Tutte Bianche, deren Demonstrationszug zu einem Gemetzel verkam, das in der Erschießung Carlo Giullianis gipfelte. Die Randale der „Blacks“ lieferten dann medial die Vorwände für die Polizeigewalt. (Hierbei wurden zunächst die Ausschreitungen gezeigt und dann die Angriffe der Polizei auf einen ganz anderen Demonstrationszug, der Stunden zuvor an einer anderen Stelle in der Stadt unterwegs war). Auch die Großdemonstration mit 250.000 Menschen am 21.7. wurde an 3 Stellen angegriffen, um den Zug aufzuspalten und danach die Einzelzüge zu zerschlagen. Sie schafften es nur bedingt. In der Nacht darauf stürmte die Polizei das Pressezentrum der Bewegung und die Diaz – Schule. In den Gefängnissen gab es Misshandlungen und Folter. Menschenrechtsorganisationen ließen sich zu völlig überzogenen Vergleichen von Genua mit der Machtergreifung Pinochets bzw. der Reichstagsbrandnacht hinreißen. Diese Vergleiche waren natürlich Quark, zeigten aber das Entsetzen in Teilen der bürgerlichen Gesellschaft. Auch die These, der Carabinieri, der Carlo Giulliani erschoss, habe in Notwehr gehandelt, ist brüchig. In der Bewegung hielt sich hartnäckig das Gerücht, Carlo habe den Feuerlöscher vielmehr selbst in Notwehr über sich gehalten, um sich damit vor den Angriffen der Polizei zu schützen. Der Verbrauch an Tränengas (immerhin ein Kampfgas aus dem Ersten Weltkrieg) war enorm. Rund 1400 Granaten wurden an den 3 Tagen verschossen.
Als beeindruckend erlebte ich die Solidarität der Bevölkerung mit den Protesten bzw. unter den ProtestlerInnen. Man brachte uns Essen und Wasser, öffnete den drangsalierten und misshandelten DemonstrantInnen die eigenen Häusern, kehrte bewusst nach Genua zurück, um uns zu schützen. In der Bewegung schützte man sich wechselseitig und teilte, was man hatte. Die Krönung aber bestand meines Erachtens darin, dass sich das Land im Generalstreik befand, um uns zu unterstützen. So einen Zuspruch zu linker Politik hatte ich bis dahin noch nie erlebt!
Mit Genua endete die umfassende ideologische Dominanz des Neoliberalismus, die Linke als historisches Subjekt war zurück auf der Weltbühne. Die bleierne, „geschichtslose“ Zeit hatte ein Ende. Die globalisierungskritische Bewegung musste jedoch niedergehen oder sich weiterentwickeln, wollte sie das System auf lange Sicht überwinden. Die italienische noglobal-Bewegung hat sich nie wieder richtig von der Repression in Genua erholt. Selbst, als 1 Jahr später das Europäische Sozialforum in Florenz stattfand und die Bewegung zusammen mit der Friedensbewegung gegen den Irakkrieg auf die Straße ging (eine Demo mit über 2 Millionen Teilnehmenden!) herrschte gedrückte Stimmung und Auflösung. In Deutschland ging manche Bewegung mit Genua erst richtig los. Die Mobilisierung war v.a. von trotzkistischen und autonomen Gruppen (und einigen UmweltschützerInnen und LGBT) getragen worden, DGB und PDS stellten nur Infrastruktur und Geld, nahmen selbst aber nur marginal teil. Die Medien bauschten Attac, damals eine kaum wahrnehmbare 20 – Personen – Gruppe, als große Organisatoren auf. In der Folge traten rund 10.000 bei Attac ein. TrotzkistInnen folgten und zogen die Organisation nach links. Und man könnte noch viel mehr schreiben: über Indymedia und die beginnende Nutzung des Internets zur politischen Mobilisierung und Diskussion, über Seattle als Gründungsevent der Bewegung und Prag bzw. Göteborg als Auftakt zu Genua. Oder die Analyse des „Empire“ als Superimperialismus. In Deutschland wurde die Bewegung zunächst zu Attac und ging später in weiten Teilen in der Linken, Blockupy und der Klimabewegung auf.
Die Proteste waren ein Wetterleuchten, ein Vorgeschmack auf eine ferne Revolution und die Reaktion des Kapitals auf diese gleichermaßen. In diesem Sinne: Viele liebe Grüße an alle, die damals dabei waren. Wir sehen uns auf den Barrikaden!
Aus: SOZ, Sozialistische Zeitung online: https://www.sozonline.de/2021/07/20-jahre-genua/